Kehdingbruch, St. Jürgen (St. Georg)

Orgel von Georg Wilhelm (1816/17)

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Die Geschichte der historischen Wilhelm-Orgel zu Kehdingbruch (Land Hadeln) an der Niederelbe geht weit zurück. Die Orgel in der Kirche St. Jürgen (St. Georg) der kleinen Gemeinde (heute ca. 250 Gemeindeglieder bei ca. 280 Einwohnern) ist in ungewöhnlich vollständiger Weise erhalten. Der Bestand an altem Pfeifenwerk ist groß, die Windladen sind noch alt, sowie das Gehäuse und Teile der Traktur. Das Instrument mit seiner farbigen Disposition, mit elf Registern auf dem einen Manual und fünf Registern auf dem Pedal ist ein Unikum in der Orgellandschaft. Die grundsolide Bauweise dieser Orgel in der Nachfolge der großen barocken Orgelbautradition dieser Region ist die Voraussetzung dafür, dass dieses Instrument zu einem der sehr wertvollen und bedeutenden Instrumente in der Elbe/Weser-Region gezählt wird. Es wird vermutet, dass die Orgel in der Kirche St. Georg zu Kehdingbruch ursprünglich von Christoph Donat aus Leipzig gebaut wird, was jedoch bis heute noch nicht belegt werden kann. Mit einer späteren Erweiterung der Orgel durch Georg Wilhelm aus Stade wird der jetzige Zustand der Kehdingbrucher Orgel beschrieben. Diese Geschichte besitzt in dieser Weise eine Parallele zu der Donat/Wilhelm-Orgel in dem benachbarten Ort Neuenkirchen.

Die Geschichte des Kirchbaus sagt aus, dass eine Donat-Orgel nicht in der jetzt bestehenden Kirche erbaut sein kann. Die Backsteinkirche St. Jürgen wird im Jahr 1745/1753 mit einem freistehenden, hölzernen Glockenturm an der Westseite der Kirche auf dem noch heute genutzten Friedhof erbaut. Es gibt allerdings bereits in den Jahren der Reformation eine kleine Kirche unter der Pfarrkirche zu Belum. Ob Donat in diese Kapelle bereits um 1657 eine Orgel einbaut, kann ebenfalls bis heute nicht belegt werden. Wie aus alten Kirchenbüchern hervorgeht, wird seit 1775 nicht nur der Pastor, der Küster (der gleichzeitig Lehrer und Vorsänger im Gottesdienst ist) und ein zweiter Pastor mit einem Deputat (Lohnanteil, der aus Naturalien besteht) vergütet, sondern auch ein Organist. So stellt sich die Frage, ob bereits vor 1818 eine Orgel vorhanden ist.

Es ist bekannt und durch das Instrument und historische Akten belegt, dass das Fräulein Christine von Goeben am 25. Juni 1814 stirbt und der Kirchengemeinde Kehdingbruch ein Legat (ein Erbe oder Vermächtnis) in Gold zum Bau einer Orgel und eine große Summe Geld zur Unterhaltung dieser hinterlässt. Im November 1814 reicht Georg Wilhelm aus Stade einen ersten Kostenvoranschlag ein. Auch wird in Erwägung gezogen, die Orgel der Hamburger Klosterkirche St. Johannis aufzukaufen und in Kehdingbruch aufzustellen. Diese Orgel wird jedoch für Kehdingbruch als zu groß befunden und 1816 von Georg Wilhelm in Cappel aufgestellt. (Dieses Instrument steht noch heute dort und ist eines der am besten erhaltenen Zeugnisse der Orgelbaukunst von Arp Schnitger.) Diese Überlegung und die Äußerungen des damaligen Pastors Scharlacken über das Legat der E. von Goeben spricht gegen das Vorhandensein einer Orgel von Donat.

Die heutige Orgel in Kehdingbruch wird von dem Stader Orgelbauer Georg Wilhelm 1816/1817 erbaut. In Kehdingbruch baut Wilhelm ein bemerkenswertes Orgelwerk mit 16 Registern, verteilt auf ein Manual mit elf und Pedal mit fünf Registern. Die Orgel ist ca. ein Halbton über normal eingestimmt und die gesamte Spielanlage ist seitenspielig angelegt. Der Spieltisch wird (mit Blick auf die Orgel) links vom Gehäuse angelegt. Im Kostenvoranschlag vergisst Wilhelm offensichtlich, die Vox humana 8’ aufzuführen, die beim Neubau jedenfalls – nach der Konstruktion der Windlade zu urteilen – zur Ausführung kommt. Im Pedal wird ein Dulcian 16’ zur Ausführung gebaut. Neben dem Tremulanten kommt auch noch eine „Vox muta“ zur Ausführung – wahrscheinlich ein stiller Tremulant, der speziell zum Gebrauch mit der Vox humana bestimmt ist. Über die Balganlage wird aber in keinem Kontrakt etwas erwähnt.

Das schön proportionierte Gehäuse mit zwei runden Pfeifentümen für jeweils sieben Basspfeifen des Principal 8’ und zwei harfenförmigen Feldern mit den kleineren Pfeifen desselben Registers trägt zwischen den Pfeifenfüßen der beiden kleinen Pfeifenfelder das Wappen der Familie von Goeben. Außerdem ziert den tragenden Querbalken unter der Orgel der Spruch: „Rühmt Seinen Namen allesamt, Gott loben das ist unser Amt!“ Dieses Instrument bleibt über die Zeit in Vollständigkeit erhalten und es können Pläne verhindert werden, das es vollständig umzubauen und zur Zweimanualigkeit zu erweitern. Die Orgel wird 1959 ein erstes Mal durch die Firma Alfred Führer vorsichtig restauriert. Eine Restaurierung des gewachsenen Zustandes wird 2003 durch die Orgelbauwerkstatt Bartelt Immer durchgeführt.


Anm.: originale Schreibweise der Register in der Einheit Fuß (’).
Anzahl der Pfeifenreihen gemischter Stimmen: z. B. 3fach (3f.).

Disposition:

(16 / I/Ped)

Hauptwerk

Rückpositiv

 

Prinzipal

Rohrflöte

Oktave

Spitzflöte

Nasat

Oktave

Mixtur

Trompete

8

8

4

4

22/3

2

5f.

8

 

*

Prinzipal

Gedackt

Rohrflöte

Waldflöte

Quinte

Sesquialtera

Scharff

Dulcian

4

8

4

2

11/3

2f.

4f.

8

 

*

 


Pfeifenwerk:

 

W

F

G

I

=

=

=

=

1816

1959/1960

1959/1960

2003

Georg Wilhelm (Stade)

Alfred Führer (Wilhelmshaven)

Carl Giesecke (Göttingen), Einbau und Intonation: Führer

Bartelt Immer (Norden)

 


Technische Angaben:

 

Manualumfang:

Pedalumfang:

Winddruck:

Tonhöhe:

Stimmung:


Gehäuse:

Pedalkoppel:

Windladen:

Mechanik:

Cimbel Stern:

Balganlage:

Ventil:

Vox Muta:

Tremulant:

CD – c’’’

CD – c’

66mmWS

ca. 3/4Ton über „heute normal“

wohltemperiert (1/6  Komma-Stimmung)


W/I

F

W

W/F/I

W (Akkordglocken)

I

I

I

I


Bau-/Restaurierungsgeschichte

1745/53

Die Backsteinkirche St. Jürgen wird erbaut.

 

 

1775

Aus alten Kirchenbüchern geht hervor, dass seit 1775 nicht nur der Pastor, der Küster und ein zweiter Pastor mit einem Deputat (Lohnanteil, der aus Naturalien besteht) vergütet wird, sondern auch ein Organist. Demnach könnte es bereits vor 1818 eine Orgel gegeben haben.

 

 

1814

Das Fräulein Christine von Goeben stirbt am 25. Juni 1814 und hinterlässt der Kirchengemeinde Kehdingbruch ein Legat (ein Erbe oder Vermächtnis) in Gold zum Bau einer Orgel und eine große Summe Geld zur Unterhaltung dieser.

Im November reicht Georg Wilhelm (Stade) einen ersten Kostenvoranschlag ein.

 

 

1816/17

Im März erstellt Georg Wilhelm für Kehdingbruch einen neuen, für die Gemeinde günstigeren Kostenvoranschlag über 1135 Reichstaler. Schließlich beginnt der Bau der Orgel durch Georg Wilhelm. Die Orgel wird als Brüstungsorgel gebaut und aufgestellt. Wilhelm baut das Gehäuse neu, das große Ähnlichkeit mit seiner Orgel zu Oerel (1830) bei Bremervörde aufweist. Nach diesem Kostenangebot soll die neue Orgel die folgende Disposition erhalten:


Disposition:

(originale Schreibweise)

A.

Das Manual,

hierin kommen folgende Register:

B.

Das Pedal,

worin folgende Stimmen kommen:

 

1.

2.


3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Principal

Quintadene repetirt

in der zweiten Octave

Gedact

Octave

Rohrflöte

Octave

Quinta

Sexquialter

Mixtur

Trommet halbirt mit zwey

bestehenden Zügen

8 Fuß

 

16 Fuß

8 Fuß

4 Fuß

4 Fuß

2 Fuß

3 Fuß

2fach

3 u. 4fach


8 Fuß

 

1.

2.

3.

4.

5.

6.



7.

Subbas

Octave

Octave

Posaune oder Dultian

Trommet

Zimbelstern mit harmonirenden Glocken

und

Tremulant und 1 Sperventiel

16 Fuß

8 Fuß

4 Fuß

16 Fuß

8 Fuß

 


Technische Angaben:

 

a.

b.

ein Clavier von groß C. D. Dis bis C’’’

appartes Pedal wie es die Disposition ergibt

 


1834


17 Jahre nach dem Neubau der Orgel wird Georg Wilhelm nach einigen Beschwerden zur Wartung nach Kehdingbruch zitiert.

 

 

1837

Eine weitere Reparatur erfolgt durch ihn.

 

 

1845

Der am neuen Geschmack der Zeit orientierte Orgelbau, der in der Region durch Philipp Furtwängler und Vater und Söhne Röver vertreten wird, verdrängt die Aktivitäten Wilhelms und wird zur harten Konkurrenz. So wird möglicherweise eine Reparatur an der Kehdingbrucher Orgel durch Philipp Furtwängler aus Elze ausgeführt.

 

 

1858

Georg Wilhelm stirbt.

 

 

1900

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wird die Orgel zunächst durch den Stader Orgelbauer Heinrich Röver (1851 bis 1929) gepflegt, später durch den Hamburger Orgelbauer Ernst Brand.

 

 

1946

Durch Rudolf von Beckerath wird im Auftrag der Landeskirche neben vielen anderen wertvollen Instrumenten auch die Orgel in Kehdingbruch untersucht. Die exakten Beschreibungen der Orgel mit ihren vielen Details ermöglichen ein sehr gutes Bild des Zustandes der Orgel vor 1958. Es ist – wie R. v. Beckerath berichtet – kein Motor vorhanden und der Orgelwind muss noch durch „Kalkanten“ (Bälgetreter) erzeugt werden.

 

 

1955

Im Juli plant der Kirchenmusikdirektor Alfred Hoppe, der auch als Orgel- und Glockensachverständiger arbeitet, einen großen Umbau des Instruments, eine Erweiterung zu einer zweimanualigen Orgel und eine ebenerdige Aufstellung, wozu die Orgelempore abgebrochen werden soll. Dieser Plan scheitert am Widerstand der Gemeinde, was aus heutiger Sicht sehr erfreulich ist. Mitlerweile gelten derartige historische „Zeitzeugen“ als große „Schätze“ und werden behutsam und schonend behandelt.

 

 

1958

Im Kostenvoranschlag der Firma Führer vom 11.01.1958 wird erstmals ein elektrisches Gebläse angeboten und später auch eingebaut.

 

 

1959/60

Die Orgel wird behutsam durch die Firma Führer unter Beibehaltung des alten Zustandes restauriert. Es ist die letzte Restaurierung der Firma Führer. Lediglich die Mixtur, die im Diskant auf 51/3-Basis erstellt ist, wird verändert und „höher gelegt“. Die Traktur wird überarbeitet und verändert. In der Vox humana ist wohlmöglich bereits im 19. Jahrhundert der Bass (C – h°) gegen eine Quintadena 8 ausgetauscht worden. Die Firma Giesecke liefert neue Zungenpfeifen für den Bass und überarbeitet die anderen Zungenregister. Diese Instandsetzung der Orgel entspricht zwar in ihrer Art und Weise der Praxis jener Zeit, ist jedoch insgesamt recht umsichtig mit gutem Respekt vor dem Schaffen Wilhelms durchgeführt worden. Daher besitzt die Orgel hinterher einen Zustand, der die ursprüngliche Klangfülle und reichen Klangfarben des Instrumentes noch weitgehend erkennen lässt.

Es muss eine Art Klingel noch bis zum Jahr 1959 an der Orgel gewesen sein – „Pingel“ genannt. Ein älteres Gemeindeglied berichtet dazu: „In der Orgel war eine ‚Pingel’ – Klingel eingebaut, diese wurde an höheren Festtagen von uns Kindern, die damals noch auf dem Orgelboden beim Organisten Platz hatten, gedreht. Die ‚Pingel’ hatte einen Stiel, der mehreckig war. Er musste ununterbrochen gedreht werden. Wir Kinder taten es gerne, ebenso das Bälgetreten, das für kleine Kinder gar nicht so leicht war. Es gehörte schon einiges Gewicht dazu. Als ich 1924 konfirmiert wurde, war auch mein Onkel Franz, ein hoch musikalischer Herr, in der Kirche. Nach dem Gottesdienst erzählte er, dass er ganz nervös geworden sei wegen dieser ewigen Klingelei, es sei fürchterlich gewesen.“ (Bericht von Frau E. von Seht).

Die „Pingel“ ist möglicherweise der Cimbelstern – nicht ordentlich über dem Registerzug funktionierend – die somit durch Drehen an der Achse von den Kindern betätigt worden ist.

 

 

1990

Trotz der Pflege der Orgel durch die durch Firma Führer wird um 1990 deutlich, dass eine fachgerechte Instandsetzung der Orgel geplant werden muss, da sich technische und klangliche Probleme häufen.

 

 

1998

Erste genaue Planungen zu einer Restaurierung beginnen.

 

 

1999

Im Frühjahr liegen vier Kostenangebote zur Restaurierung der Orgel vor.

 

 

2002

Der Auftrag zur Restaurierung der Orgel kann an die Orgelbauwerkstatt Bartelt Immer (Norden) vergeben und der Vertrag unterzeichnet werden.

 

 

2003

Im Dezember wird die Restaurierung der Orgel abgeschlossen. Hierbei wird eine nach historischem Vorbild gebaute Keilbalganlage erstellt, die Mixtur wird auf ihre alte Zusammensetzung zurückgeführt und alle historischen und neueren Orgelteile werden sorgsam überarbeitet.

So kann das restaurierte, alte Orgelwerk am 14. Dezember 2003 (3. Advent) mit einer feierlichen Orgeleinweihung wieder verwendet werden und seither erklingt diese wertvolle Orgel wieder in ihrer alten, farbigen Klangfülle.

 


(Stand 19.02.2022; Literatur und Quellen: Martin Böcker, 13.06.2017)